Frühe Neuzeit - Die etwas andere Chronik
1596: Sir Walter Raleigh und die Kopflosen
Im
Jahre 1596 unternahm der berühmte englische Seefahrer
Sir Walter Raleigh (1554-1618) eine Expedition in das Gebiet
des heutigen Guyana. Auf der Suche nach El Dorado, dem legendären
Goldland Südamerikas, hörte er Seltsames von dem
Volk der Ewaipanomas:
Auf ihren Schultern sei kein Kopf zu sehen, sie hätten
die die Augen in den Schultern, "their mouths in the
middle of their breasts" und die (Kopf-)Haare wüchsen
ihnen hinten zwischen den Schulterblättern.
Raleigh kannte die Erzählungen des englischen Ritters
John Mandeville, der im 14. Jahrhundert - angeblich - eine
weite Reise durch das Heilige Land, durch große Teile
Nordafrikas bis hin nach Indien unternahm. (In der Geschichtswissenschaft
ist es bis heute umstritten, ob er überhaupt bis an
das Mittelmeer gekommen ist.) In seinem Reiseführer,
bis in das 18. Jahrhundert hinein eine beliebte Lektüre,
beschreibt er allerlei kuriose und monströse Gestalten,
z.B.:
- Einfüßer (Skiapoden, Monopoden): Menschen
mit einem übergroßen Fuß, der ihnen Schatten
spendete;
- Einäugige, die mit einem Auge in der Mitte der
Stirn;
- Menschen mit Ohren, die ihnen bis an die Knie herunterhängen
und eben
- die Kopflosen ("The Travels of Sir John Mandeville").
Das Reisebuch Raleighs - eigentlich recht glaubhaft und
geografisch sehr präzise geschrieben - erwähnt
die Schilderungen Mandevilles und weiß um den Mangel
an Glauben, der diesen Schilderungen geschenkt wird: Man
hielt Mandevilles Erzählungen seit vielen Jahren für
Fabeln.
Nun jedoch, in der Ferne, erzählen Einheimische Raleigh
von dem Volke der kopflosen Ewaipanomas. Und obwohl er nie
selbst einen Kopflosen sah, hält er das, was er zuvor
für unwahrscheinlich hielt, für möglich.
Heute weiß man, dass viele Reisegeschichten des Spätmittelalters
und der Frühen Neuzeit aus unterschiedlichen Gründen
frei erfunden und mit Motiven aus antiken (Plinius der Ältere,
Pomponius Mela, Gajus Julius Solinus) und mittelalterlich-christlichen
Schriften (Augustinus, Isidor von Sevilla) angereichert
wurden. "Kein Reisender hat immer und überall
die Wahrheit gesagt", merkt Wolfgang Griep in seinem
Aufsatz "Lügen haben lange Beine" an und
stellt Folgendes fest: "Die imaginären Orte mit
ihren phantastischen Bewohnern liegen immer dicht hinter
der Grenze des Bekannten und Erforschten." (S. 133)
Zwar gab es immer auch schon Kritiker derartiger Geschichten,
doch lagen für viele Gestalten wie die Kopflosen nicht
außerhalb denkbarer Grenzen: Im Volksglaube, so zeigt
der Artikel "kopflos" in Bächtold-Stäublis
"Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens",
waren kopflose Gestalten und Geister keine Seltenheit...
Sir Walter Raleigh jedenfalls hielt die Existenz kopfloser
Menschen nicht für unwahrscheinlich. Kurios: 1618 wurde
er wegen Hochverrats hingerichtet - enthauptet. Seine letzten
Worte sollen gelautet haben: "Wenn das Herz am rechten
Fleck ist, spielt es keine Rolle, wo der Kopf ist."
Bild: Jean-Baptiste Coriolan: Homo Fanesius
Auritus, in: Ulyssis Aldovandi, Monstrorum historia. 1642.
Quelle: Wikimedia Commons / PD-Art
Literatur
Bächthold-Stäubli, Hanns: Handwörterbuch
des deutschen Aberglaubens. Berlin/Augsburg 2000 (Originalausgabe
1927ff.)
Bitterli, Urs: Alte Welt - neue Welt. Formen des europäisch-überseeischen
Kulturkontaktes vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. München
1992
Gewecke, Frauke: Wie die neue Welt in die alte kam. München
1992
Griep, Wolfgang: Lügen haben lange Beine. In: Bausinger,
Hermann: Reisekultur - Von der Pilgerfahrt zum modernen
Tourismus. München 1991, S. 131ff.
Links
Quellen im Internet:
>>
The Discovery of Guiana, by Walter Raleigh
>>
The Travels of Sir John Mandeville
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